Selten ist diese Frage so oft gestellt wie in diesen Tagen. Und vielleicht sind wir mit dieser Frage so nah am Ursprung von Weihnachten wie lange nicht. In dieser Nacht nämlich war den wenigsten klar, wie es wohl werden würde.
Maria und Josef, so berichtet die Weihnachtsgeschichte, sind unter-wegs, weit weg von zuhause. Und sie finden nur schwer eine Unterkunft, einen Ort, wo das Kind, das Maria in sich trägt, zur Welt kommen kann.
Und dann die Hirten.
Das Bild von Heinrich Vogeler aus dem Jahr 1902 rückt sie ins Licht. Einfache Leute, die anfangs auch nicht ahnen können, was ihnen in dieser Nacht widerfahren würde.
Im Bild sehen wir sie gewissermaßen aus der Perspektive des Engels. Ein bisschen so, als würden wir dem Engel über die Schulter schauen. Einer hat seinen Hut abgenommen, ehrfürchtig, verwundert, staunend, aber auch skeptisch zurückhaltend – wie Menschen eben reagieren, wenn sie einem Engel begegnen. Gestandene Leute sind es, die schon einiges erlebt haben in ihrem Leben, die nichts so leicht aus der Bahn wirft, die aber Überraschungen gegenüber auch durchaus zurückhaltend sind.
Zwischen Freude und Skepsis, so könnte man die Gesichter der Hirtinnen und Hirten deuten. Sie sind dem Engel zugewandt, von dem wir nur die Rückseite sehen. Jugendlich wirkt er, weiblich, mit großer Anmut, ein Blumenkranz im Haar. Mit den großen Flügeln beeindruckend, ja furchterregend. Und gleichzeitig die Arme ausgebreitet, um zu schützen, um zu segnen – in dieser Nacht, in der ein Stern aufgeht.
Wie wird wohl Weihnachten?
Alle sind gefährdet in dieser Nacht – am meisten das Kind, schutzlos, wehrlos, klein, angewiesen. Seine Eltern in der Fremde, ohne Unterkunft, die Hirten, die den Wagemut besitzen, der Botschaft eines Engels zu trauen und sich auf den Weg machen, das Kind zu begrüßen und in ihm den Heiland zu entdecken.
Wie gefährdet das Leben ist, und dass es überhaupt keine Garantien gibt, das bekommen wir zu spüren – in diesem Jahr deutlich wie nie. Und dass wir einen Heiland brauchen.
Wir haben aber auch die Chance, die anderen Menschen nah und fern mit den Augen eines Engels anzuschauen. Und in ihnen den Bruder, die Schwester zu entdecken, genauso erlösungsbedürftig wie wir selbst. Wer weiß, vielleicht wird es ein ganz besonderes Weihnachten, dieses Jahr. Ich wünsche es uns.
Pfarrer Ansgar Schmidt
Text zum Bild:
Heinrich Vogeler: Verkündigung an die Hirten
mit freundlicher Abdruckerlaubnis des Verlages Ruth Negendanck, Lilienthaler Kunststiftung